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Mit Social Network Analysis gegen kriminelle Netzwerke
18.08.2021 Zwei wissenschaftliche Studien zeigen auf, wie eine soziale Netzwerkanalyse der Justiz helfen kann, kriminelle Vereinigungen zu zerschlagen.
Prof. Antonio Liotta , Experte für die Analyse von Big Data und komplexen Netzwerken und Dozent für Data Science an der Fakultät für Informatik der Freien Universität Bozen , hat gemeinsam mit WissenschaftlerInnen mehrerer Universitäten (Università di Messina, Università di Palermo, University of Derby, Shanghai Ocean University, Edinburgh Napier University) die beiden Studien 'Disrupting resilient criminal networks through data analysis: The case of Sicilian Mafia' (erschienen in PLOS ONE) und 'Criminal Networks Analysis in Missing Data scenarios through Graph Distances' veröffentlicht. Sie demonstrieren, wie kriminellen Netzwerken mit Wissensgraphen das Handwerk gelegt werden könnte.
Herausforderung: Das Problem fehlender Daten
Wer kriminelle Organisationen anhand bestehender Daten analysieren möchte, steht vor dem Dilemma mangelnder Datensätze. Aus offensichtlichen Gründen bestehen keine großen Datenbanken, die den Aufbau solcher Organisationen strukturiert beschreiben, sind doch Daten in Ermittlungs- und Gerichtsakten schwer zugänglich. "Wer zur kriminellen Welt gehört, verwischt, verdunkelt und verändert Daten ganz gezielt", erklärt Big-Data-Experte Liotta. "Man denke nur an die Kommunikation innerhalb von Banden oder Terrorgruppen. In Abhöraktionen hören die Ermittler oftmals nur die Stimme von Mittelsmännern, nicht aber jene des kriminellen Chefs selbst, weswegen sich die Identifizierung des Anstifters eines Verbrechens äußerst schwierig gestaltet. In anderen Fällen kommuniziert der Clan-Chef wiederum mit einer Person, die nicht Teil des kriminellen Netzwerks ist."Der italienische Richter Giovanni Falcone , eine Symbolfigur des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität auf Sizilien, wusste um die raffinierten Strategen an der Spitze des organisierten Verbrechens und stellte die Kernfrage, wie zwischen Anführern, untergeordneten Rollen und Personen, die keiner kriminellen Vereinigung zuzuordnen sind, unterschieden werden könne.
Forscher stellten fest, dass kriminelle Netzwerke vom strukturellen Standpunkt aus vergleichbar mit neuronalen Netzwerken sind, in denen die Informationen effizient von Knoten (Neuron) zu Knoten weitergegeben werden. In beiden Fällen handelt es sich um Netzwerke des Typus "nicht skaliert", was selbst bei großen und komplexen Netzwerken kurze Wege erlaubt. Dabei ist das Verständnis eines jeden Knotenpunkts des Netzwerks essenziell, da aufgrund dieser Definitionen die Polizei beispielsweise eine isolierte Verhaftung oder eine groß angelegte Razzia anordnet. Falsche Schlüsse ziehen mit sich, dass eine künftige Verhaftung von Schlüsselfiguren sich wesentlich schwieriger gestaltet. Hier setzten Prof. Liotta und WissenschaftlerInnen der Universitäten Messina und der Universität von Derby an, indem sie die Perspektive umkehrten und die Netzwerke auf soziale Zusammenhänge hin analysierten.
Nachbildung von Clan-Netzwerken mit Hilfe von Wissensgraphen
Das Team rekonstruierte dafür die Funktionsweise des Beziehungsnetzes eines Mafia-Clans. Vorlage war ein konkreter Fall: Sie sichteten und kopierten manuell die Daten von Tausenden Seiten an Prozessakten zu den Mitgliedern der Mafiafamilie "Mistretta" und des "Batanesi"-Clans. Diese sind im Rahmen der Operation "Mountain" Anfang der 2000er Jahre verhaftet, in Messina vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Ausgehend von diesen beiden Datensätzen und basierend auf Telefonabhörungen und Überwachungen erstellten sie mit einem Algorithmus einen Wissensgraphen, der das kriminelle Netzwerk der beiden Clans darstellte. Gemäß dieser grafischen Darstellung war es durch eine topologische Analyse möglich, nicht offensichtliche Wechselwirkungen zu erkennen und so den Informationsfluss und die Interaktionen zwischen den verschiedenen Unterorganisationen zu verstehen.Um zu erkennen, an wen die größte Informationsmenge weitergeleitet wird und wen es somit als wichtigen Knotenpunkt des Netzwerks auszuhebeln gilt, haben die ForscherInnen eine Messmetrik namens 'Betweeness Centrality' verwendet. Diese erlaubt es, jene Knoten ausfindig zu machen, die eine entscheidende Rolle bei der Informationsverbreitung zwischen den verschiedenen Segmenten des Netzwerks spielen, so genannte Brückenknoten. Gemessen wird nicht unbedingt der kürzeste, sondern der effektivste Weg zur Erreichung des vom Auftraggeber gesetzten Ziels, z.B. eines Mordes.
Das Verständnis für zentrale Knoten im Graphen (diejenigen mit einem höheren Betweeness Centrality-Maß) hilft der Polizei bei der Entscheidungsfindung, wer wann festgenommen werden soll und ob mehrere Knoten in einer Razzia zeitgleich getroffen werden sollen. "Dadurch kann die Polizei die Kommunikation im Netzwerk mit hoher Wahrscheinlichkeit signifikant unterbrechen, auch wenn sie vielleicht nicht den Chef verhaftet, weil dieser nur über vertrauenswürdige Mittelsmänner im Netzwerk auftaucht", betont Liotta. "Wenn die Polizei Schlüsselelemente isoliert, gewinnen die Strafverfolgungsbehörden Zeit, den Anführer zu verfolgen, was eine Wiederherstellung des kriminellen Netzwerks maßgeblich reduziert."
Lernen anhand eines 'synthetischen' kriminellen Netzwerkes
Die Studien haben auch das Interesse von ForscherInnen in den USA geweckt, die nun vergleichende Studien mit US-Datensätzen anstellen. "Wir haben versucht, eine ähnliche Anfrage an andere Institutionen zu stellen, bisher ohne Erfolg. Wir möchten unseren Forschungshorizont in Richtung anderer Organisationsformen ausweiten", so Liotta. Deshalb verglichen die AutorInnen in ihrer zweiten Arbeit 'Criminal Networks Analysis in Missing Data scenarios through Graph Distances' neun völlig unterschiedliche kriminelle Netzwerke: neben der sizilianischen Mafia auch 'Ndrangheta-Clans, Drogenhändlergruppen in Quebec, Stockholmer Straßenbanden und die im Süden der Philippinen aktive terroristische Gruppe Abu Sayyaf.Aus den ihnen zur Verfügung gestellten Datensätzen entwickelten die ForscherInnen Algorithmen, die es ihnen ermöglichen, ein 'synthetisches' kriminelles Netzwerk zu generieren, das an eine Organisation angepasst werden kann, über die sie wenig Informationen haben. "Mit diesen Algorithmen nähern wir uns dem Modell eines neuen, aufzubrechenden Netzwerks. In einem zweiten Schritt bestimmen wir die besten operativen Strategien, um Schlüsselpersonen zu enttarnen und den Informationsfluss zwischen den Knoten zu verlangsamen", erklärt Liotta.
Der Erfolg dieses Modells ist jedoch gekoppelt an verfügbare operative Daten, die normalerweise durch das Ermittlungsgeheimnis geschützt sind. Prof. Antonio Liotta arbeitet deshalb mit verschiedenen Forschungsgruppen an der Entwicklung von Techniken zur Anonymisierung sensibler Daten, um eine direktere Zusammenarbeit zwischen der Universität und den Sonderermittlungseinheiten der Polizei zu ermöglichen.