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Digitale Resilienz: Sozialer und medialer Druck steigt
14.07.2022 Viele Menschen zeigen im Zusammenhang mit ihrem digitalen Medienhandeln ernste Symptome von Überforderung und Stress.
Corona-Pandemie, Klimawandel, Migration und Krieg in der Ukraine: Nachrichten sind in Krisenzeiten wichtiger denn je. Dennoch steigt die Herausforderung, wie Medien einen geeigneten Umgang mit der Frustration und der Informationsüberlastung des Publikums finden. Auf Basis einer beim führenden Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag gegebenen Repräsentativbefragung in deutschen Haushalten haben Dr. Leif Kramp (ZeMKI, Universität Bremen ) und Dr. Stephan Weichert (Vocer Institut für Digitale Resilienz) den Zusammenhang von digitaler Mediennutzung und psychischem Wohlbefinden untersucht.
"Es ist beunruhigend zu wissen, wie viele Menschen in Deutschland sich derzeit von digitalen Medien abwenden, weil sie angesichts des permanenten Nachrichtenstroms überfordert oder erschöpft sind", sagt Medienwissenschaftler Dr. Stephan Weichert, der die Studie gemeinsam mit Dr. Leif Kramp geleitet und durchgeführt hat. Auch wenn während der Pandemie ein starker Zuwachs an digitaler Kommunikation zu verzeichnen gewesen sei, erlebe die Mehrheit der Deutschen das Online-Sein derzeit als Belastung, so Weichert. "Die kurz aufeinander folgenden Krisen haben nunmehr dazu geführt, dass sich viele Menschen aufgrund ihres digitalen Medienkonsums ausgebrannt fühlen und diesen aus Selbstschutz zum Teil massiv einschränken."
Als Ursache für den diagnostizierten "digitalen News-Burnout" machen die Medienforscher unter anderem das rückläufige Vertrauen in digitale Medien, die eigene Hilflosigkeit der Bundesbürger gegenüber dem globalen Krisengeschehen und ein gestiegenes Unwohlsein durch die starke Präsenz von Social Media im Alltag fest: "In unruhigen Zeiten wollen viele Menschen gut informiert sein", sagt Studienleiter Dr. Leif Kramp. "Aber viele populäre digitale Medienangebote - vor allem diffuse Quellen, die über soziale Netzwerke und Messengerdienste zirkulieren - lösen diesen Anspruch nicht ausreichend ein, geschweige denn helfen den Menschen dabei, mit der Krisensituation zurechtzukommen."
"Gerade Netzwerke wie Facebook, Instagram, Twitter, TikTok und weitere Angebote sorgen für digitale Abhängigkeiten und können Suchtverhalten hervorrufen", sagt Weichert. Der Krisenmodus hätte diese Fehlentwicklungen verschärft. "Es sollte künftig darum gehen, sich den bisher gängigen Mechanismen der Empörungs- und Eskalationslogik digitaler Medienangebote zu entziehen", so Weichert. Die Bewältigung von Krisen werde uns noch länger beschäftigen, deshalb wolle man Medien und Politik für die gesundheitlichen Aspekte im Umgang mit der Digitalisierung sensibilisieren.
So belegen die Studienergebnisse ein großes Interesse der Befragten an Gesundheitsthemen im Zuge der Corona-Pandemie. Neben einer grundsätzlich höheren Sensibilisierung für gesundheitsbezogene Informationen gehören dazu auch Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung, etwa gesunde Bewegung und Ernährung sowie gesundheitliche Selbstoptimierung. Auch finden sich Hinweise auf eine verstärkte Online-Mediennutzung der 14- bis 29-Jährigen mit Bezug zum Pandemiegeschehen: Viele junge Menschen tauschen sich seitdem häufiger mit anderen Menschen online über aktuelle Entwicklungen aus, suchen im Internet nach Informationen zu ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und konsultieren häufiger Online-Nachrichtenangebote. Allerdings meiden auch viele Deutsche seitdem Online-Nachrichten generell, weil sie diese zunehmend psychisch belasten.
Resilient durch schwierige Zeiten zu kommen, entwickelt sich zur Metakompetenz in der digitalen Mediengesellschaft. Sie sei aber auch zentral für die "Ausgestaltung eines demokratiefähigen Gemeinwesens", so die Studienautoren. Dass viele Menschen von der Nutzung digitaler Medien gestresst sind, hat auch Auswirkungen auf die Qualität öffentlicher Diskurse: "Wir sollten die Risiken der digitalen Überlastung für unsere Demokratie erkennen und entsprechende Grundlagen schaffen, damit unsere Gesellschaft resilienter werden kann", so Kramp und Weichert: Sie plädieren dafür, systematisch Resilienzstrategien des digitalen Medienkonsums zu entwickeln, um gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern. Dazu gehörten vor allem der "Publikumsdialog, eine darauf aufbauende Vertrauensinitiative in professionelle Medien sowie eine selbstkritische Reflexion von digitaler Medienzeit und Smartphone-Nutzung".